Digitale Überforderung

Digitale Überforderung. Psychiater Michael Winterhoff warnt: «Wir überladen unser Hirn ständig»

Der deutsche Bestseller-Autor Michael Winterhoff über digitale Überforderung in der multimedialen Gesellschaft und die beruhigende Wirkung eines Waldspaziergangs.
Er ist einer der gefragtesten Erziehungsexperten unserer Zeit: Michael Winterhoffs Liste öffentlicher Auftritte reicht bis ins nächste Jahr. Alle grossen deutschsprachigen TV-Stationen und Zeitungen berichteten über ihn. Wie kaum ein anderer löst der Bonner mit seinen Themen und Analysen grundlegende gesellschaftliche Debatten aus. Seine Theorien bringt er auf den Punkt, seine Bücher schreibt er so, dass sie jedermann versteht. Bereits sein Erstling von 2008 «Warum Kinder Tyrannen werden» schaffte es auf die «Spiegel»-Bestseller-Liste. Mit seinem aktuellen Buch «Mythos Überforderung» wagt sich Winterhoff auf Neuland.

Herr Winterhoff, Ihre Bücher zum Thema Eltern-Kind-Beziehung waren Bestseller. Weshalb beschäftigen Sie sich nun mit der Überforderung Erwachsener?

Michael Winterhoff: Die Themen hängen zusammen. Meine massgebliche Arbeit ist die Elternberatung, da Auffälligkeiten der Kinder meist mit dem Verhalten der Eltern zusammenhängen. In den letzten Jahren beobachtete ich zunehmend eine digitale Überforderung der Erwachsenen. Viele sind getrieben, gehetzt, im Zustand der diffusen Angst.

Weshalb sollten Menschen heute stärker gefordert sein als noch vor ein paar Jahrzehnten?

Es gab immer Zeiten, in denen der Mensch stark gefordert war, manchmal auch überfordert. In Zeiten wirtschaftlicher Krisen oder hoher persönlicher Anforderungen, wenn man sich selbständig macht, ein Haus baut oder Kinder bekommt. Dieser Überforderungszustand legt sich irgendwann wieder. Seit einigen Jahren jedoch geraten immer mehr Menschen in einen Dauerzustand der Überforderung. Früher hat Burnout vorwiegend Topmanager betroffen, heute kann es jeden treffen.

Sie auch?

Ich habe mich über längere Zeit stark belastet gefühlt. Ich war ständig unter Druck. Natürlich dachte ich, dass dies mit meiner Arbeit in der Praxis zusammenhängt. Bis ich herausgefunden habe, dass der Grund ein ganz anderer ist, nämlich das Leben in der digitalen Gesellschaft.

Was soll schlecht sein an der multimedialen Gesellschaft?

Die digitale Revolution hat viele Vorteile. Nur leider sind wir nicht erfahren im Umgang mit modernen Medien. Nachrichten sind heute so aufbereitet, dass wir live dabei sind. Bei einem Flugzeugabsturz hätten wir früher erfahren, dass es abgestürzt ist und untersucht wird, ob menschliches oder technisches Versagen vorliegt. Heute bekommen wir alles mit von diesem Flug, bis zu den Geräuschen der Maschine, den psychischen Störungen des Piloten, den ­Leidensgeschichten der Angehörigen. Nach zehn solchen Negativ-Meldungen kommen wir in den Zustand der diffusen Angst. Allerdings ohne es zu merken.

Wir sollen also Negativ-Nachrichten meiden?

Nicht nur. Kommt hinzu, dass unser Gehirn nur eine bestimmte Menge an Entscheidungen treffen kann. Durch die Entwicklung des Internets und des Smartphones überladen wir uns mit Meldungen und Entscheidungen, die wir treffen müssen. Professor Ernst Pöppel von der Ludwig-Maximilians-Universität in München hat erforscht, dass wir täglich rund 20’000 Entscheidungen treffen müssen. 90 Prozent unbewusst. ­Bleiben noch immer 200 übrig, über die man sich Gedanken machen muss. Das ist viel zu viel. Googeln wir nach Restaurant-Vorschlägen, kommen 20 Möglichkeiten. Buchen wir eine Reise, vergleichen wir 100 verschiedene Angebote im Internet. Ebenso wenn wir einen Handy-Tarif ändern wollen. Ein Blick auf Facebook oder Twitter heisst, unzählige digitale Informationen aufzunehmen und abzuwägen.

Schwer, dem auszuweichen. Wir leben nun mal in einer Informationsgesellschaft.

Wir überladen aber ständig unser Gehirn. Und ebenso schlimm ist, dass wir es nicht einmal merken. Denn unsere Psyche hat mehrere Schwachpunkte. Einer davon ist, dass die Psyche nicht wehtut. Wir können sie extrem belasten und überanstrengen, ohne es zu merken. Immer mehr Erwachsene laufen mit ihrer Psyche Marathon. Würden wir das Gleiche mit unserem Körper machen, würden Schmerzen das längst verhindern.

Können wir denn unser Gehirn schonen?

Das können wir. Wir müssen den Input reduzieren, damit wir weniger Entscheidungen treffen müssen. Ursprünglich wurde der Sonntag eingeführt, weil wir nicht sieben Tage ohne Unterbruch auf dem Acker stehen können. Heute sollten wir für unsere Psyche einen freien Tag einführen, ohne TV, Smartphone, Internet. Also alle sieben Tage Abstinenz von der Informationsflut. Nur dann kann das Gehirn regenerieren.

Klingt nicht so schwierig.

Zusätzlich sollte heute jeder aktiv seine Psyche stärken. Ich empfehle, alle ein bis zwei Wochen ein bis zwei Stunden im Wald spazieren zu gehen. Aber beachten Sie, dass Sie alleine gehen sollten, ohne Handy und Hund, ohne Sport zu treiben, nicht bei Regen. Beim ersten Mal sollten es vier bis fünf Stunden sein. Man geht durch den Wald, und die Bäume ziehen vorüber. Durch diese Bewegung kommt man rasch zu sich. Und wenn man in sich ruht, kann man auch wieder über sich verfügen.

Das klingt schon schwieriger, da sich dabei viele Menschen langweilen.

Sie sind ja nur das erste Mal vier bis fünf Stunden im Wald. Und es ist deswegen nicht langweilig, weil sie die ersten zwei bis drei Stunden Gedanken quälen. Sie haben einen Gedanken nach dem anderen, wissen gar nicht, was sie im Wald sollen. Das Gehirn schaltet jedoch sehr schnell um, sie sind bald wieder sie selbst, entspannt, sind nicht mehr im Tunnelblick, Probleme sehen sie aus einer Distanz heraus.

Gibt es kein anderes Patentrezept – mit Gartenarbeit, Sport, Fernsehen?

Bei der Gartenarbeit, dem Sport oder dem Fernsehen sind Sie abgelenkt von sich selbst. Im Wald hat man keine Ablenkung, man ist völlig auf sich zurückgeworfen.

Das Rezept erscheint fast zu simpel.

Wenn ein Mensch nicht psychisch erkrankt ist, funktioniert das Konzept, hundertprozentig. Ich garantiere Ihnen, nach drei bis vier Stunden im Wald sind Sie in einer anderen Verfassung.

Funktioniert diese Wald-Therapie bei allen?

Ich habe diese Methode 2005 entwickelt und seither bei Tausenden von Patienten angewendet. Wenn es mir gelingt, dass sich Patienten darauf einlassen, in den Wald zu gehen, sind sie schon beim nächsten Besuch bei mir verändert. Sie sind aus dem Zustand des Drucks heraus, sie können über sich verfügen. Es ist phänomenal, es passiert etwas mit den Menschen, das man kaum glaubt.

Was machen jene, die nicht in den Wald gehen können?

Alternativ kann man sich jeden Tag für eine halbe Stunde in die Kirche setzen. Egal, ob man gläubig ist oder nicht. Man ist in einer Kirche auf sich zurückgeworfen, ohne äussere Störung und Ablenkung. In den ersten ­Tagen sind Sie froh, wenn Sie die Kirche verlassen können. Dann kommt der Punkt, wo Sie es geniessen, mit sich alleine zu sein. Es dauert zwei Wochen, bis man über die Stille zur inneren Ruhe kommt. Danach reicht es, wenn Sie alle zwei Wochen eine halbe Stunde gehen.

Sie haben eingangs von Ihrem Burnout erzählt. Wie haben Sie es überwunden?

Zum Glück bin ich rechtzeitig dahinter­gekommen. Ich habe kein Burnout erleben müssen. Ich habe eine Einladung für Exer­zitien bekommen, in einem Kloster in Frankreich. Dort musste ich eine Woche lang schweigen. Das war der Hammer. Als ich nach Hause kam, war ich für alle spürbar verändert. Für ein Dreivierteljahr etwa hielt dieser Zustand an. Dann begann die Unruhe wieder. So startete ich mit meinen Forschungen zum Thema digitale Überforderung. Heute bin ich wieder jemand, der in sich ruht. Ich bin zwar älter, kann aber mehr arbeiten als Jahre zuvor. Ich bin viel effektiver und habe eine höhere Lebensqualität.

Auch durch Waldspaziergänge?

Die mache ich regelmässig. Wenn ich vier Wochen lang nicht gehen würde, was ich nicht mehr mache, wäre ich schon in einer Unruhe. Nach acht Wochen wäre ich in ­einem Zustand des Katastrophenalarms, angespannt und überdreht.

War das alles, was Sie in Ihrem Leben verändert haben?

An den Wochenenden lese ich keine Mails mehr. Wenn man einen Brief bekommt, legt man diesen weg und sagt, das mache ich später – er beschäftigt nicht mehr. Liest man hingegen ein Mail, bleibt dieses in der Psyche hängen. Das Wochenende ist versaut. Zudem schaue ich seit zehn Jahren keine Fernsehnachrichten mehr. Diese können traumatisierend sein. Emotionsbeladene Nachrichten fressen sich in der Psyche fest. Das tut keiner Psyche gut.

Wie informieren Sie sich dann?

Ich lese Zeitung. Dort kann ich entscheiden, ob ich einen Artikel lesen oder überblättern will – Artikel etwa über einen Kindermörder aus Bonn, über den berichtet wurde. Was dieser Mann mit den Kindern alles gemacht hat, will ich gar nicht lesen.

Weshalb geben Sie keine konkreten ­Empfehlungen ab, wie jeder einzelne Mensch den Handy-, Online- oder ­TV-Konsum reduzieren kann?

Ist ein Mensch getrieben, kann er diese Rezepte gar nicht aufgreifen. Es geht darum, dass man sich selbst in einen anderen Zustand bringt. Wenn ich mich darauf einlasse und erlebe, wie ich wieder zu mir komme, dann bin ich in der Lage, mir zu überlegen, wie ich mir Freiraum schaffe – ob man am Sonntag freimacht oder unter der Woche ab 18 Uhr nicht mehr erreichbar sein will. Das muss jeder für sich selbst entscheiden.

Carmen Schirm-Gasser | www.blick.ch l 12.07.2016
Michael Winterhoff: «Mythos Überforderung», Gütersloher Verlagshaus.

Bild: https://unsplash.com/photos/VK284NKoAVU

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